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Ein Rückblick auf das Rabenclan-Samhain 2014

von Stephan Stemmler

Caliphans Legende vom Geist des Rabenclans

Vor genau 20 Jahren wurde ein Verein gegründet, der Freunden der Natur und des nichtchristlichen oder sogenannten heidnischen Glaubens ein Zuhause geben sollte. Der Verein nannte sich Rabenclan. Die beiden Raben Munin und Hugin waren des alten Glaubens nach die rechte Hand und das Auge Odins, des obersten Gottes der Asenmythologie und sollten Pate für die Namensgebung und Symbolik des Vereins stehen. Die Asen leb(t)en in Asgard, der Welt der Götter, an die große Teile der nordeuropäischen und vor allem skandinavischen Bevölkerung glaubte, bevor das Christentum seinen Siegeszug durch Europa vollendete. Vieles im Christentum wurde aus den alten Mythen und Traditionen übernommen. Aber es gab nur noch einen Gott, an den die Menschen glauben sollten.

Nach den ersten zehn Jahren des Rabenclans kamen Menschen dazu, die das etwas altmodische Denken an Götter und Geister modernisieren wollten. Sie wollten das mythische Denken, Glauben und Handeln der Gegenwart anpassen. Einer Gegenwart, die besonders von Vernunft, Wissenschaft und Logik geprägt ist. Das spielerische Ritual sollte als Stilmittel zwar seinen Platz behalten, doch Kraft, Einfluss und Gewicht sollte verlagert werden.

Das heidnische Weltbild in einer modernen Gesellschaft

Wie sieht eine modern denkende und empfindende Welt aus, die weiß, dass auch das christliche Weltbild nur ein Glauben ist? Wie kann man ein altes, heidnisches Weltbild in die Gegenwart bringen, ohne das man sich der Lächerlichkeit preisgibt? Was ist noch wahr an überkommenen Ritualen und Götterglauben?

So sehr auch das sogenannte heidnische Weltbild veraltet war, so sehr unterschied es sich in der Essenz zum christlichen Weltbild nicht. Auch im Christentum ist die Basis eine Legende. Ein Mythos, der auf Wunder und wissenschaftlich nicht erklärbaren Phänomenen fußt. Auferstehung, das Paradies, die Teilung des Meeres, Engel und Erzengel, die Erschaffung der Menschheit, das Fegefeuer, Lazarus und der allmächtige Gott, der über allen Dingen steht. Alles Ereignisse, die einem Gott, der über Blitz und Donner herrscht, der Anderswelt, Raben, die das sehende und spähende Auge des obersten Gottes sind, mit den Menschen feilschende Götter, rituelle Opferungen, das griechische Weltbild der alten Götter und der Beginn der europäischen Mythologie, mit den Titanen und Atlas, der die Weltkugel trägt, Demeter, der Göttin der Fruchtbarkeit der Erde und Münzen auf den Augen der Toten, die in die Anderswelt bzw. Hades also das Totenreich fahren, um den Fährmann bezahlen zu können, in nichts nachstehen.

Wie würde also ein zeitgenössischer Mensch heutzutage diesen Glauben leben können? Wie im christlichen, haben auch vorchristliche, „naturfreundliche“ Mythen und Rituale vorrangig symbolischen Charakter. Rituale stärken die Tradition und geben sie weiter an die kommenden Generationen. Mythen, also der Glaube an ein polytheistisches Weltbild und ihre Sagen und Legenden dazu, dienen der Manifestation eines Weltbildes und Lebensstils. Was ist völlig absurd und was hat im Ursprung eine Art essentielle Wahrheit, die auch heute noch Sinn macht?

Die Suche nach heidnischer Kultur

Dies waren die Fragen, mit denen sich die Reformer des Rabenclans beschäftigen wollten. Eine seriöse, vernunftsorientierte Auseinandersetzung mit Glauben, Ritualen und Mythen. Nicht mehr das Recht zu erhalten, in Gewandung und Schwert in den Supermarkt gehen zu können, ohne ausgelacht zu werden, sollte ein wesentlicher Schwerpunkt des Vereins werden, sondern z.B. Rituale zu entwickeln, die sowohl eine Lehre, Bereicherung oder Erfahrung bewirkten und dabei sogar bestenfalls eine Tradition beibehielten und eine neue Kultur förderten. Daher änderte man auch den Untertitel des Vereins in: Verein zur Weiterentwicklung heidnischer Traditionen.

Die zweite Dekade des Vereins war geprägt vom Ausüben und Erweitern dieser kulturellen Forschungen. Man wollte eine Kultur mit Hilfe von Ritualen entwickeln, die sowohl modern war, als auch tradierte Wurzeln hatte. Ein spielerisches Element gehörte immer dazu. Schließlich sollte es auch Spaß machen, begeistern und inspirieren. Doch der Sinn stand immer an vorderster Front. Auch sollten sich die Rituale von denen der christlichen im strukturellen Gerüst größtmöglich unterscheiden. Die verbissene Ernsthaftigkeit und der morbide und theatralische Duktus sollten herausgelassen oder vermindert werden. Hierarchien sollten möglichst abgeschafft werden. Jeder konnte sich an der Gestaltung und Entwicklung gleichberechtigt beteiligen. Doch dieser Anspruch forderte jedes einzelne Mitglied. Der hohe Anspruch eine Art anerkannte Religion oder Glaubensrichtung zu sein, die neben den bekannten existieren konnte, verlangte harte Arbeit mit sich selbst und dem, was man eigentlich möchte. Die Selbstverantwortung war eine Art Preis der Modernisierung. Je weniger die Reformer eine Richtung vorgaben, je weniger kamen die traditionellen Treffen zu den Jahreskreisfesten zustande. Das Engagement der Raben schwand. Die Rituale und Feste wurden rarer und bald war es fraglich, ob man den Verein noch tragen könne.

Das 20-jährige Jubiläum in der Kakushöhle

Ein letztes kraftvolles Aufbäumen schaffte es noch einmal, zum 20-jährigen Jubiläum den Untergang des Rabenclans zu verhindern. Es wurde ein Fest gefeiert, das mit denen der Vergangenheit spielend mithalten konnte. Manche behaupten sogar es war das Beste, das jemals stattfand. Gespickt mit Geschichten und Mythen, rituellen Handlungen und Traumreisen, einem Platz wie er mystischer und magischer nicht sein konnte, einem Wetter zu Samhain, wie es nur ein wohlgesonnener Wettergott bescheren und einer Ansammlung von Menschen wie sie homogener und kreativer kaum sein konnte. Angeführt von zwei herausragenden Meistern des alten Wissens und der Traditionen, die mit spielerischer Leichtigkeit dem Gedenken an die Vorfahren Raum gaben, blieb auch für jedes Individuum Zeit, sich mit sich selbst und seinen Gedanken zum Thema des Festes zu beschäftigen und dabei das Beste für sich herauszuholen. Eine Reise durch die Zeit, von der Vergangenheit zum Hier und Jetzt mit einem visionären Blick in die Zukunft.

Es wurde eine uralte Höhle, in der schon sicher viele Vorfahren vor Tausenden von Jahren gehaust haben, ausgewählt. Ein Pfad um und über die Höhle wurde abgesteckt und die Stationen mit Federn markiert. Hier sollte der Versuch starten noch einmal den Geist des Rabenclans erneut Lebenskraft einzuhauchen. Wieder standen die Raben Munin und Hugin als Paten zur Seite. Munin repräsentierte die Vergangenheit und die Erinnerung, Hugin das kommende und die Zukunft. Gemeinsam mit Munin gingen wir auf die Suche nach Hugin, der nicht mehr zu sehen war. Die Zukunft schien verloren oder zumindest in Gefahr! Aber auch Munin schien verwirrt und alle Erinnerung vergessen zu haben. In einer Traumreise flogen wir zur Dämmerung gemeinsam mit Munin vom Dach der Höhle in ihr Innerstes. Jeder machte dabei seine ganz persönliche Erfahrung.

Um die gesamte Höhle herum gab es immer wieder Plätze der Besinnung und der Andacht. Man konnte den Toten begegnen und ihrer Gedenken. Ein Platz war für den Kampf, Streit und die Auseinandersetzung. Und es gab einen Stein des Lichts. Wir wurden angehalten den Platz nur in Richtung des Laufs der Sonne zu umrunden, wenn man nicht Ungewöhnlichem begegnen wollte.

Samhain: Traumzeit, Erinnerungszeit, Zeit für Zusammenhalt

Nach Ende des Rundgangs bekam jeder noch eine Aufgabe zugeteilt, unter anderem um den gesamten Platz zu schützen, die Menschen bei ihren Träumen zu inspirieren, zu besingen, bei Streitigkeiten zu besänftigen und zu beraten, für Licht, Feuer und Wärme oder schlicht für das leibliche Wohl in Form von Speisen und Getränken für alle zu sorgen. Ein paar Trickser waren wohl auch dabei, die zwischendurch für Verwirrung sorgten.

Nun wurde noch, von denen die später alles zusammenfassten, das Seil der Verknüpfung gelegt. Das Seil der Verknüpfung stand für den Zusammenhalt und das Ereignis an sich und sollte zur Erinnerung bewahrt werden. Samhain – die Zeit zwischen Ende der Erntezeit und dem Beginn der dunklen Zeit des Jahres. Der Zeitraum in dem das Tor zur Anderswelt vorübergehend offen steht und man den Toten gedenken und vielleicht auch begegnen kann. Die Zeit, wo alle Ernte eingefahren ist und man sich auf die besinnliche Phase des Jahres einstellt.

Danach durfte jeder eine Zeit lang seiner eigenen Wege auf dem Pfad gehen. Bis wieder alle zunächst zum Essen zusammen kamen. Man tauschte sich am Feuerplatz über das Gesehene und Erlebte aus und konnte am Seil der Verknüpfung dafür einen Faden anbinden. Nach Abschluss der Runde begaben wir uns alle in die Haupthöhle, wo jeder von uns schon einmal bei der Traumreise war. Wir betraten die stockdunkle Höhle ohne Licht und verließen uns ganz auf unsere anderen Sinne. Außer Munins Krächzen konnte wir aber nichts Auffälliges entdecken. Als wir jedoch nach einer guten halben Stunde wieder aus der Höhle kamen, begegnete uns wieder Munin. Diesmal in einer anderen Gestalt als zuvor und offensichtlich noch verwirrter.

Der Stein des Lichts

Gegen Mitternacht wurde jeder einzeln eingeladen, die Höhle des Todes zu betreten… Was da alles so passiert ist, sollte wohl von jedem einzeln und mündlich überliefert werden. Diese tradierte Form der Übermittlung ist wohl in diesem Fall die zutreffendste und im Sinne des Rabenclans. Ich sage nur schon so viel; es sind viele spannende Geschichten passiert!

Der Rest ist schnell erzählt und aus einer eher diffusen Erinnerungsperspektive. Denn die Nacht war lang und sehr anstrengend und ich habe in der Nacht nur kurz die Augen zu gemacht. Weit verstreut übernachteten ein paar in der Hütte, ein paar um den Felsen in den unterschiedlichsten Nischen und der Rest sitzend, kauernd oder liegend um das Lagerfeuer herum. Einige schliefen recht fest und lang, andere wiederum fast gar nicht.

Doch irgendwann ging ja die Sonne auf und kündigte den neuen Tag an. Die Hüter des Platzes weckten alle sanft aber bestimmt und wir kamen zu einer Abschlusszeremonie zusammen. Wir versammelten uns noch schlaftrunken vor dem großen Felsberg. Genauer gesagt rotteten wir uns dort zusammen. Denn die Nacht lies uns scheinbar alle verwandeln. So stand dann plötzlich ein Schwarm schwarzer Krähen im Kreis und wir folgten nahezu schweigend, höchstens mal krächzend, unserer Führung zurück in die Höhle. Sie leitete uns hinein, durch die Grotte hindurch und hinauf auf eine Ebene, die uns dem Licht und den ersten Sonnenstrahlen des jungen Tages entgegenbrachte. Was dort, beim Stein des Lichts, genau geschehen ist und ob Hugin gefunden wurde, vermag ich wiederum gar nicht in Worte fassen. Aber ich kann sagen, dass es ein wunderbares Gefühl war, der Sonne entgegen zu sehen, die warmen Strahlen aufzunehmen und subtil zu spüren, dass etwas Heilsames geboren und vollendet wurde. Der Rest wird wohl Einzug ins Reich der Mythen und Legenden halten und nur von Mund zu Ohr weitergetragen werden müssen, auf den Zusammentreffen künftiger Feste und Zeremonien.

Ein Festmahl vom Feinsten

Beim nächsten Mal werde ich dann für alle, die es nicht längst wissen, und für die Nachwelt in Erfüllung meiner Aufgabe als ein Hüter der Verknüpfung erzählen, wie das Festmahl am nächsten Abend verlaufen ist. Die Höhepunkte des Treffens am zweiten Festtag und mein ganz persönlicher Moment, der Auswirkungen auf die gesamte Veranstaltung hatte und eine unerwartete Wende bzw. Einprägung brachte, die so wirklich nur jemand Vorausahnen konnte, der ganz genau hingesehen hatte.

Ein Festmahl vom Feinsten, mit Ansprachen und mehreren Gängen und einem Ausklang, der untermauerte, in welcher Zeit des Jahres wir uns befanden und welches Fest wir gerade begingen. Näher und intensiver kommt man an die Grenze zwischen der dunklen und der hellen Zeit selten heran und zeigt wie nah Mythos, Legenden und Wahrheit manchmal liegen…

Caliphan,
ein Hüter der Verknüpfung

Bildnachweis:
Fotografie der Kaukushöhle von Frank Vincentz, lizensiert unter der Lizenz „Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported“. Die Quelle ist Wikimedia.